In der zweiten Dezemberhälfte 1944 konnten wir glauben, wir hätten das Ärgste hinter uns, ja, wir hätten den Krieg überstanden. Es war genau umgekehrt. Aber das ahnten wir damals nicht. Wir glaubten uns in Sicherheit in Schaffhausen, auf der amerikanischen Seite. Keine deutsche Artillerie schoss herüber. Die Amerikaner hatten uns beim „Seitenwechsel" in leer stehende Häuser eingewiesen und verlangt, an der Haustüre einen Zettel anzubringen mit der Aufschrift „In this house are people" - in diesem Haus wohnen Leute - sonst sahen wir so gut wie nichts von ihnen. Das primitive Leben, wie wir es schon einige Wochen in unserem Heimatort Wehrden geführt hatten, ging weiter. Wasser holten wir am Brunnen, Licht spendete eine Kerze oder eine Fahrradkarbidlampe. Unsere eigenen Vorräte waren aufgebraucht, wir lebten von denen der geflüchteten Hausbewohner. Die meisten Häuser ringsum standen leer; einige waren bewohnt von den Eigentümern, die zurückgeblieben waren, und von den drei oder vier Wehrdener Familien wie wir. Die Erwachsenen trafen sich beim Wasserschöpfen und sprachen miteinander. Außer zwei jüngeren Mädchen gab es in unmittelbarer Nachbarschaft keine Kinder, also keine Spielkameraden für einen zwölfjährigen Jungen. Unsere Situation war alles andere als normal, aber wir waren der Gefahr, die das Leben zwischen den Fronten in Wehrden mit sich gebracht hatte, entronnen und fühlten uns in Sicherheit.
In den Tagen vor Weihnachten sprach es sich herum, dass am zweiten Feiertag eine Messe gehalten würde. In der Kirche waren wir mindestens zwei Monate nicht mehr gewesen, und nun eine feierliche Weihnachtsmesse! Also war auch der Schaffhauser Pastor dageblieben, und die Amis werden es ihm erlaubt haben, meinten meine Eltern. Die Kirche „zu den heiligen Schutzengeln", Anfang der dreißiger Jahre erbaut, war von Kriegsschäden verschont geblieben, obwohl sie ziemlich frei auf einem Hügel, dem höchsten Punkt mitten im Dorf stand. Natürlich kamen wenig Gläubige, die meisten waren dem Aufruf zum Verlassen der Grenzregion gefolgt. Aber eben nicht alle, und deshalb war auch Pastor Rommelfanger zurückgeblieben, wie ich später erfuhr. Bevor die Messe anfing, rief der Organist mich auf die Empore hinauf, wohl weil er sonst keinen geeigneten Jungen im Kirchenschiff erblickte. Ich sollte den Blasebalg der Orgel betätigen, damit die Pfeifen Luft bekamen. Es war gar nicht so leicht bei meiner geringen Kraft, die seitlich aus der Orgel hervorragende Stange immer wieder nach unten zu drücken, so wird es mit meiner Andacht bei dieser Messe nicht weit her gewesen sein, aber ich trug meinen Teil dazu bei, dass die Kirchenbesucher die schönen Weihnachtslieder mit Orgelbegleitung singen konnten. Als der Pastor mit einem Messdiener aus der Sakristei kam und zum Altar schritt, zeigte sich, dass es doch noch einen anderen Jungen in meinem Alter gab, Clemens, mit dem ich später befreundet war. Ob amerikanische Soldaten in der Kirche waren, weiß ich nicht. Ich stelle mir vor, dass die Teilnehmer an diesem außergewöhnlichen Weihnachtsgottesdienst in dankbarer Stimmung die Kirche verließen und in der Hoffnung auf Frieden bestärkt wurden.
Eine Woche später war alles anders. In der Sivesternacht hörten wir plötzlich Gewehr- und Maschinengewehrfeuer, zuerst fern, dann immer näher, der Kampf musste sich in der Straße und um die Häuser abspielen, wo wir wohnten. Es klopfte heftig an die Haustüre. Meine Mutter öffnete. Deutsche Soldaten fragten, ob Amerikaner im Haus seien. Sie rissen den Zettel an der Türe ab und gingen weiter. Es wurde ruhiger, aber nur für kurze Zeit, dann kam der Gefechtslärm wieder näher, von der anderen Seite. Diesmal waren es Amerikaner, die mit dem Gewehrkolben gegen die Türe schlugen. „German soldiers?" fragten sie, als meine Mutter öffnete. In dieser Nacht wurden wir noch ein drittes Mal „erobert", von den Deutschen. Ein Hauptmann namens Schwab - er stellte sich mit seinem Namen vor - und einige Soldaten hielten sich länger bei uns auf. Meine Mutter bot Schnaps an. Sie tranken aus der Flasche, wollten keine Gläser. Indessen erzählten sie, dass es ihnen gelungen war, die Amerikaner bis Differten zurückzuschlagen, dann seien ihnen andere von Ludweiler her in die Flanke gefallen, und sie hätten wieder zurückweichen müssen. Nun wollten sie hier eine Verteidigungslinie aufbauen. Die Straße, in der wir wohnten, sei jetzt die Hauptkampflinie und das Haus als Kompaniegefechtsstand geeignet, weil es an der Kreuzung stand und einen Ausgang nach der der Front abgewandten Seite hatte. Deshalb müssten wir es verlassen und uns eine andere Unterkunft suchen. „Hier können keine Zivilisten wohnen", sagte er, „für Sie ist es zu gefährlich, und uns behindern Sie, wenn wir auf Sie Rücksicht nehmen müssen." Meine Eltern versuchten, ihn umzustimmen, ohne Erfolg. Am folgenden Tag, dem Neujahrstag, erhielten die anderen Familien in der Straße den gleichen Bescheid.
In dieser Silvesternacht haben auf jeder Seite mehr als zehn junge Soldaten ihr Leben verloren. Nach dem Krieg wurde für sie und weitere Tote aus jenen Tagen der Ehrenfriedhof auf einer Anhöhe außerhalb des Ortes angelegt. Die Amerikaner wurden später auf einen amerikanischen Soldatenfriedhof umgebettet.
Verständlicherweise fiel es den Einheimischen schwerer als uns, der Aufforderung des Hauptmanns nachzukommen, immerhin sollten sie ihre eigenen Häuser verlassen, die nun in der Frontlinie standen, und in der Ortsmitte Zuflucht suchen. Die Wehrdener berieten sich, was in der veränderten Lage das Beste für sie sei, und wollten wieder nach Wehrden zurückzukehren, da sei man ein bis zwei Kilometer von der Frontlinie entfernt, wenn auch auf der gefährlicheren Seite, aber daran sei nichts zu ändern. Ich erinnere mich nicht, dass einer erwogen hätte, in das nächste von Amerikanern besetzte Dorf zu ziehen. Vielleicht hätten es die Deutschen nicht zugelassen.
Am zweiten Januar packten wir unsere Siebensachen auf den Handwagen und zogen ihn die Straße hinauf bis zu den Häusern, wo die anderen Wehrdener wohnten. Die waren noch am Aufladen. Der Wagen stand in der Scheune, die Pferde waren angespannt. Meine Eltern gingen hinein, um zu helfen, ich blieb draußen bei unserem Handwägelchen. Ein Motorengeräusch erregte meine Aufmerksamkeit. Als ich über die Felder schaute, erblickte ich drei Panzer, die sich näherten. Sie mögen noch weiter als einen halben Kilometer entfernt gewesen sein, aber es gab ja keine anderen Geräusche. Zuerst war ich mir nicht im Klaren, was da auf uns zu rollte. Ich hatte noch nie Panzer gesehen, nur in der Zeitung und im Kino. Sie kamen schnell näher, gerade in unsere Richtung. Ich rief meinen Eltern zu: „Dort kommen drei amerikanische Panzer!" - „Komm herein!" rief meine Mutter zurück. Ich blieb noch einen Augenblick stehen, so fesselte mich der Anblick der Panzer, die vielleicht noch zweihundert Meter entfernt waren, da reckte ein Soldat vorne rechts neben dem Turm den Arm hoch und winkte, ich solle ins Haus gehen, das sah ich ganz deutlich. Ich lief hinein, und wir suchten in dem Keller auf der Rückseite des Hauses Schutz. Das Motorengeräusch wurde stärker. Plötzlich krachte es an der Außenwand des Hauses, und es roch nach Verbranntem. Die Granate hatte die Wand zwischen den beiden Kellerfenstern herausgerissen. Was wäre geschehen, wenn sie das Fensterglas getroffen hätte? Hätte der schwache Aufprall genügt, oder wäre sie an der Zwischenwand explodiert, hinter der wir saßen? Wir hörten noch zwei weitere Einschüsse oben im Haus, dann ein zunächst schwaches, aber bald stärker werdendes Knistern. „Es brennt!" rief jemand. Alle liefen hinauf. Die Bäuerin stieß das Scheunentor auf, winkte den Amerikanern mit einem weißen Fetzen an einem Besenstiel - woher hatte sie den so schnell? - und führte die Pferde hinaus. Die Amerikaner schossen nicht mehr. Die Panzer drehten ab und fuhren über die Felder zurück, wie sie gekommen waren.
Das Feuer im Scheunendach ging von selbst wieder aus, aber zwei Nachbarhäuser standen in Flammen und brannten ab. In unseren vor dem Haus stehenden Handwagen hatten sie mit dem Maschinengewehr geschossen. Einige Kleider und ein Fotoalbum waren durchlöchert. Aber das bemerkten wir erst später.
Der Panzerangriff vom zweiten Januar hatte uns bestätigt, dass man in dieser Straße nicht länger bleiben konnte. Warum aber die Wehrdener Familien nun doch nicht in ihr Dorf zurückkehrten, wie es geplant war, sondern sich in der Ortsmitte von Schaffhausen eine Unterkunft suchten, also in geringerer Entfernung zur Front blieben, weiß ich absolut nicht zu sagen. Hofften sie vielleicht, doch noch auf die andere Seite zu gelangen? In den letzten Dezembertagen hatten die Amerikaner einige Familien in Schaffhausen veranlasst, nach Überherrn auszuweichen. Die übrigen hätten folgen sollen. Das war durch den deutschen Vorstoß in der Silvesternacht vereitelt worden. Nun bedauerten manche, dass sie zu lange gezögert hatten. Auf der amerikanischen Seite wären sie in Sicherheit gewesen. Von deutscher Artillerie oder von Flugzeugen war nichts zu befürchten. Soweit wir es beurteilen konnten, fehlte es den deutschen Soldaten an jeder Art von Ausrüstung. Dass es noch zehn lange Wochen dauern würde, während deren wir Artilleriebeschuss und Jaboangriffen ausgesetzt waren, bis die Amerikaner weiter vorrückten und die Saar überschritten, konnte oder wollte sich damals keiner der Zurückgebliebenen vorstellen.
*****
Fotos: Rita Dadder