Der eine, der Vater meines Vaters, stammt aus der Saargegend, genauer gesagt, aus der Völklinger Kante mit Wurzeln an der unteren Saar und im Luxemburgischen. Der andere, der Vater meiner Mutter, war um 1890 aus Ostpreußen, genauer gesagt, aus Masuren an die Saar gekommen. Beide waren ungefähr gleich alt. Sie begegneten sich dann in den dreißiger Jahren nach der Eheschließung meiner Eltern.
Wir wohnten mit dem Großvater mütterlicherseits zusammen im Haus. Der andere, der in der Familie meiner Tante im Nachbarort lebte, kam dann und wann zu Besuch. Im Hausflur wechselten die beiden ein paar höfliche Sätze, dann verschwand der eine in seiner Küche oder kümmerte sich um seine kranke Frau, der andere setzte sich in die warme Ecke neben dem Herd meiner Mutter und berichtete von seinen Besuchen bei der übrigen Verwandtschaft.
Nach 1870 verließen etwa eine Million junger Ostpreußen ihre Heimat auf der Suche nach Arbeit, die sie „im Reich" zu finden hofften. Das war der gängige Ausdruck dort, habe ich gelesen. Und wie sagte man an der Saar vor 1935? „Heim ins Reich" hieß die Parole. Ach ja, 1935, 13. Januar, Saarabstimmung. Beide Großväter nahmen daran teil. Als am 11.7.1920 die Masuren in einer Volksabstimmung darüber entscheiden konnten, ob ihre Heimat zu Polen oder zu Deutschland gehören sollte, war mein Großvater schon seit dreißig Jahren an der Saar, aber er war abstimmungsberechtigt und hätte kostenfrei in seine alte Heimat fahren können. Er wollte nicht.
Im September 1939 wurden beide Großväter von der Grenze weg „ins Reich" gebracht, der saarländische nach Hessen, in die Nähe von Kassel; der masurische nach Friedrichroda bei Gotha in Thüringen. So legte er fast ein Viertel des Weges zurück, auf dem er fünfzig Jahre vorher gekommen war.
Den ostpreußischen Großvater kannte ich besser als den anderen, nicht nur, weil wir zusammen wohnten, er hatte den kleinen Enkel gern um sich, glaube ich, erzählte ihm aus seiner Jugend und nahm ihn mit zu seinen Beschäftigungen. Manche sagten, ich sähe ihm ein wenig ähnlich, auch haben wir denselben Vornamen.
Zu berichten ist nun von einer Begegnung, die ich vor nicht langer Zeit in der Römischen Villa in Borg hatte, die ihrerseits Erinnerungen wachrief an ein Ereignis, das ich damals nicht lustig gefunden hatte. Die etwa fünfzehn Besucher waren Juden aus Weißrussland. Einige verstanden etwas Deutsch, andere konnten Jiddisch. Wir hatten einen Dolmetscher, es gab also keinen Sprachschlamassel. Während der Besichtigung redete mich eine der Besucherinnen in ihrer Sprache an, von der ich kein Wort verstand. Sie bemerkte ihren Irrtum, lachte und sagte dann mit russischem Akzent und gerolltem R: „Ah, pardon, aber du siehst aus wie ein rrrussisch Mann."
Sechzig Jahre früher, im letzten Kriegsjahr saßen wir Schüler in der Quinta im Völklinger Gymnasium. Der Lehrer erklärte die Merkmale und pries die Vorzüge der nordischen Rasse. Wer von den Nazi-Größen außer Heydrich konnte sich eigentlich dazu rechnen? Der Lehrer nahm seine Beispiele nicht aus dieser Etage, sondern forderte uns auf, in der Klasse nach dem nordischen Idealtyp Ausschau zu halten. Die Wahl fiel auf einen großen blonden Mitschüler, doch er hatte keine blauen Augen. Der Lehrer schien nicht ganz zufrieden zu sein, aber es war kein Junge in der Klasse, der alle Merkmale zeigte. Da ließ der Lehrer durchblicken, was er erwartet hatte. Wir hätten sagen sollen: „Sie sind es, Herr Studienrat." Das wagten wir Zwölfjährigen damals nicht.
Nun ging der Lehrer durch die Klasse, sah diesen und jenen Schüler genauer an und ließ eine Bemerkung aus der NS-Rassentheorie fallen. Auf mich deutend, sagte er: „Der sieht aus wie einer mit ostischem Einschlag." Das war damals kein Kompliment, und ich war darüber nicht froh. Mit der Weißrussin konnte ich sechzig Jahre später fröhlich lachen. Meinem ostpreußischen Großvater bin ich nicht gram, sondern fühle mich ihm in Dankbarkeit verbunden.
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Vorschaubild: französische Arbeiter (1919), (gemeinfrei), bearbeitet