Für alle, die sie näher kannten, war sie ein menschliches Vorbild. Sie lebte die bürgerliche Tugenden vor, liebte das klare und deutliche Wort, ließ ihre Gesprächspartner an ihrem immensen Wissen teilhaben, konnte sich hervorragend auch mit Kindern verständigen, wusste fast immer Rat und verstand es auch, wenn nötig zu trösten.
Als ehemalige Kollegin meines Vaters war sie häufig in unserer Familie zu Gast und ich ebenso oft bei ihr zu Besuch. Sie konnte wunderbar erzählen und Dinge verständlich machen. Als ich zum ersten Mal nach Weimar kam, fand ich mich ohne Stadtführer, nur aufgrund ihrer Erzählungen sofort dort zurecht.
Sie war gläubige Katholikin und die Grundwerte der Religion standen für sie ebenso wie Kants kategorischer Imperativ außer Frage. Da allerdings, wo es nicht um eherne Glaubenssätze ging, behielt sie sich ihr freies Urteil vor. So glaubte sie weder an die Marienerscheinung von Lourdes noch an die von Fatima und konnte auch nach intensiver Lektüre mehrerer Biographien nicht verstehen, wieso Papst Johannes XXIII. die unbedarfte junge Therese von Lisieux, die (- Frau Dr. Caspars voller Vorname war Marie Therese -) ihre Namenspatronin war, zur „Heiligen des Atomzeitalters" erklärt hatte.
Während der nationalsozialistischen Zeit musste sie feststellen, dass der damalige Direktor ihrer Schule religiöse Einflüsse im Unterricht eindämmen wollte und deshalb kontrollierte, wer aus dem Lehrerkollegium kirchlich gebunden war. Eines Sonntags traf sie ihn auf ihrem Weg zur Kirche und sagte freundlich: „Guten Morgen, Herr Direktor, leider bin ich in Eile, ich will zum Gottesdienst. Sie müssen wissen, dass meine Vorfahren aus Kempen stammen, aus einem Ort, an dem sich schon zur Römerzeit eine frühe Christengemeinde gebildet hatte. Deshalb gehört der Kirchgang seit Generationen zu unserer Familientradition." Da der Direktor als Wissenschaftler über Volks- und Brauchtum gearbeitet hatte, fiel ihm zu dieser Begründung kein schlagendes Gegenargument ein. Er ließ sie ziehen, und als sie dann noch sagte: „Gern würde ich für Sie beten, aber davon halten Sie ja wohl nichts", antwortete er: „Ich glaube, dass es sich immer positiv auswirkt, wenn jemand gut über einen anderen denkt." Damit war für beide das Thema Kirche einverständlich erledigt und Frau Dr. Caspar hatte von dieser Seite keine Pressionen mehr zu befürchten.
„Man muss auf Auseinandersetzungen vorbereitet sein, sich mit der Position des Gegenspielers vertraut machen und sich geeignete Argumente und Äußerungen vorher ausdenken und sie einüben", war ihr Standpunkt. Als ebenfalls während der NS-Zeit ein junger SS-Offizier in ihre Schule kam und die Schülerinnen bei einer Gesundheitskontrolle in Verlegenheit bringen wollte, baute sie sich vor ihm auf und erklärte getreu der NS-Ideologie: „Sie sind Offizier und befehlen beim Militär, hier in der Schule habe ich das Kommando. Stellen Sie bitte meine Autorität nicht in Frage." Der Offizier schwieg und ließ die Schülerinnen unbehelligt.
Erfrischend und einprägsam klangen auch ihre Lebensweisheiten. Spontan fallen mir zwei Sätze von ihr ein: „Wer seinen Beruf nicht mit einem Wort nennen kann, hat keinen", oder - daran erinnere ich immer wieder bei Casting-Shows im Fernsehen - „Unglaublich, was Leute alles tun, um nicht arbeiten zu müssen."
Sie war unverheiratet, ihrem Neffen eine liebevolle Tante, ihren jungen und älteren Freunden (zu den ersteren durfte ich mich zählen) eine wertvolle Gesprächspartnerin und Beraterin und ihren Schülerinnen eine kluge Lehrerin. Im Alter stellte sie fest, dass ihr in großer Treue einige Schülerinnen verbunden waren, für die sie aus irgendwelchen Gründen anfänglich wenig Sympathien empfunden hatte. „Wenn ich das an mir festgestellt habe, war ich immer sehr bemüht, mir es nicht anmerken zu lassen und war wohl zu ihnen besonders nett.", sagte sie.