„Eine Fiktion der Kunstgeschichte“, wie er einmal genannt wurde, war Christian Kretzschmar natürlich nicht. Dennoch ist es nicht ganz einfach, dem Baumeister und Bildhauer nachzuspüren. Es ist zwar bekannt, wann er gestorben ist, sein Geburtsjahr und seine gesamte Herkunft liegen im Dunkeln. Ab dem 4. Dezember 1726 ist seine Anwesenheit an der Saar urkundlich belegt, denn er wird bei einer Gerichtsverhandlung in Wadgassen als Zeuge erwähnt und am 14. Februar 1727 noch einmal dort in der gleichen Funktion.
Obwohl er in den Mettlacher Kirchenbüchern als „saxo“ (Sachse) bezeichnet wird, heißt das nicht zwingend, dass er aus Sachsen stammt. Dort könnte auch seine letzte Wirkungsstätte gewesen sein, bevor er an der Saar tätig wurde. Es gibt begründete Annahmen, dass Christian Kretzschmar durch Kurfürst Franz-Ludwig, Bischof von Breslau, mit zwei weiteren Baufachleuten ins Kurtrierische und damit an die Saar gekommen ist. Er könnte also aus Niederschlesien stammen und zwischenzeitlich in Sachsen gewirkt haben, zumal besagter Kurfürst Franz-Ludwig, der unzählige Ämter gesammelt hatte, u.a. Kurfürst von Trier war, bevor er von 1729 – 1732 Erzbischof von Mainz wurde.
Am 8. Februar 1727 erhielt Kretzschmar seine Bestallungsurkunde zur Errichtung der Benediktinerabtei Sankt Peter und Maria in Mettlach auf Empfehlung von Bernardo Trabucco, dem Baumeister der Abtei von Wadgassen. Er wurde mit der Bestallungsurkunde beauftragt, nach einem angefertigten Aufriss das Klostergebäude zu erstellen, wozu er tüchtige und fleißige Arbeiter engagieren sollte. Daneben sollte er sich, wenn er noch Zeit habe, „seiner Profession gemäß“ als Bildhauer betätigen. Für seine gesamte Tätigkeit erhielt Kretzschmar jährlich 100 Trierische Taler sowie Kost und Logis. Die Abtei wurde im Rahmen der französischen Revolution säkularisiert und ist heute im Besitz der Firma Villeroy&Boch, die dort ihre Verwaltung untergebracht hat.
In der Mettlacher Bestallungsurkunde wurde er noch als Werkmeister, aber schon ein Jahr später, als er als Trauzeuge fungierte, im Mettlacher Kirchenbuch als „Christianus Kretschmar Saxo monasterii nostri architectus“ bezeichnet. Es ist anzunehmen, dass Kretzschmar nicht nur als Bauleiter und Bildhauer tätig war, sondern auch planerische Aufgaben übernommen hat. Sicherlich ist der Begriff „architectus“ nicht identisch mit den heutigen Begriff Architekt, man kann aber davon ausgehen, dass seine drei Tätigkeitsbereiche mit „architectus“ zusammengefasst werden.
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Beschwerdebrief der Trierer Steinmetzzunft an den Bürgermeister ihrer Stadt, in dem sie beklagt, dass der „bekannte“ Baumeister aus Mettlach frei von „Auflagen und Lasten“, also ohne in der Zunft organisiert zu sein, Bautätigkeit an Kirchen und Klöstern ausübt, die er auch noch auf „Bürgershäuser“ ausweitet. Zudem beschäftige er Trierer Baumeister als „Subordinierte Gesellen“, was heißt, dass diese als „Subunternehmer“ für ihn tätig waren. Da nichts von offizieller Stelle gegen Kretzschmar unternommen wurde, ist davon auszugehen, dass er ein gefragter Architekt und Bauunternehmer war.
Viele Trierer Bürgerhäuser tragen noch heute Stilelemente Christan Kretzschmars, obwohl nirgends sein Name auftaucht. Das lässt sich durch den bereits genannten Umstand erklären, dass er, der nicht zünftig organisiert war, nicht offiziell als Baumeister in Erscheinung trat, sondern die Trierer Baumeister, die eigentlich in seinem Auftrag arbeiteten.
Christian Kretzschmars Bautätigkeit ist hauptsächlich in Kurtrier. Bei der Mettlacher Abtei ist sein Stil 1727 noch hochbarock, seine überladene Ornamentik gilt als „stilverspätet“. Im Laufe seiner Tätigkeit wird sein Stil gemäßigter, flächiger und es findet eine Hinwendung zum damals aktuellen französischen Stil statt. In Bezug auf seine Formensprache sind aber auch Verwandtschaften im ostmitteldeutschen und südostdeutschen Raum sowie Bezüge zum böhmisch-schlesischen Raum feststellbar. Denn hier findet man Klosteranlagen, die durchaus artverwandt sind mit dem Kloster in Mettlach.
Viele Gebäude in Merzig und Trier werden Christian Kretzschmar zugeschrieben. Bei einigen ist seine Mitwirkung belegt, bei der überwiegenden Zahl allerdings nicht. Bei diesen wird an Hand des Baustils oder auch nur einzelner Stilmittel und Ornamente seine Urheberschaft nur allzu gerne angenommen. Schriftliche Belege gibt es für die Mettlacher Abtei und ihre Nebengebäude und für das Kloster Himmerod, wo Nachzahlungen an den Baumeister Christian Kretzschmar in Kellerei-Rechnungen in den Jahren 1763/1764 - 1765 vermerkt sind. Die hohen Summen lassen darauf schließen, dass Kretzschmar auch den Plan für die Klosterkirche angefertigt hat. Verschiedene Kunsthistoriker nennen Kretzschmar auch als Planungsurheber für die Kirche St. Paulin in Trier.
In Merzig wird ihm das Bürgerhaus Marx-Staadt in der Poststraße und die Mitarbeit bei größeren Renovierungsarbeiten am Merziger Stadthaus zugeschrieben, wo er deutlich seine Handschrift hinterlassen hat.
Ähnlich verhält es sich beim Hilbringer Schlösschen, das sich mitten im Ort auf einer kleinen Anhöhe befindet. Es steht unter Denkmalschutz und ist heute in Privatbesitz.
Das Halfenhaus in Merzig wird ihm aufgrund der Fensterform zugeordnet, es dürfte aber von einem nachgeordneten Handwerker ausgeführt worden sein. Die barocke Dorfkapelle im Merziger Stadtteil Harlingen wird liebend gerne dem berühmten Baumeister zugeschrieben. Vergleicht man aber die genannte Kapelle mit seinen anderen Kirchenbauten, so erscheinen die Proportionen dieses Kirchleins unausgewogen, viele seiner Ornamente zu derb und die Gesamterscheinung zu grob und einfach, um Christian Kretzschmar als Urheber zu erkennen.
Von Christian Kretzschmar ist bis dato noch kein Bildnis bekannt. Es gibt lediglich eine überschaubare Anzahl von Erwähnungen in alten Büchern, wie den Kirchenbüchern von Mettlach. Dennoch war er für das ehemalige Kurtrier ein bedeutender Baumeister, der seine Handschrift deutlich hinterlassen hat.
Man kann Kretzschmar durchaus neben dem fürstlichen Hofbaumeister Friedrich Joachim Stengel (1694–1787) als den wichtigsten Barockbaumeister an der Saar bezeichnen. Sicherlich ist er auch von weniger bedeutenden Bauleuten nachgeahmt worden und hat auf diese Weise eine Würdigung erfahren. Die Stadt Merzig zollte der angesehenen Persönlichkeit Anerkennung, indem sie ihn am 14. Januar 1750 zum Ratsherrn und Schöffen ernannte. In Luxemburg und Belgien sind Schöffen Beigeordnete des Bürgermeisters, mit dem sie den Schöffenrat oder das Schöffenkollegium bilden. In diesem Sinne dürfte die Berufung Kretzschmars zum Schöffen zu verstehen sein, was für ein sehr hohes Ansehen in der Stadt spricht
Geboren wurde er vermutlich um 1700, vermutlich war Caspar Kretzschmar, der 1739 gestorben ist, sein Vater. Seine Mutter ist unbekannt. In seiner Merziger Zeit hat er Anna Bonnebie geheiratet, die Ehe blieb aber kinderlos. Er starb am 23. Juni 1768 in Merzig und wurde auch dort beerdigt.
In Merzig gibt es heute die Christian-Kretzschmar-Schule und einen nach ihm benannten Platz. In Mettlach ist eine Straße nach ihm benannt.
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Textquelle: Ingrid Jakobs, Christian Kretzschmar, Steinhauer und Baumeister des 18. Jahrhunderts in Kurtrier, Saarbrücken 1991
Fotos: Ferdinand Luxenburger