Anders ist es bei dem 1897 in Differten geborenen Peter Lorson, der mit sieben Schwestern in einer Bergmannsfamilie aufwächst. Der Pfarrer, ein aus Luxemburg stammender ehemaliger Jesuitenschüler, macht seinen Freund, der dem Orden angehört und aus Thionville zu Besuch gekommen ist, auf den klugen Jungen aufmerksam. So kommt es, dass der Dreizehnjährige aus dem Bergmanns- und Bauerndorf Differten im Bisttal am Rand des Warndtwalds im Jahr 1910 auf der Strecke, auf der die Erz- und Kohlenzüge zwischen dem saarländischen und dem lothringischen Industriegebiet verkehren, nach Thionville fährt, dort umsteigt in den Zug, der aus dem fernen Basel kommt und bis zum ebenso fernen Oostende an der Nordseeküste fährt. Ein 13jähriger Junge vor dem Ersten Weltkrieg, der bis dahin allenfalls die Verwandten im Nachbardorf besucht hat, vielleicht nicht einmal bis in die kleine Kreisstadt Saarlouis gekommen ist, fährt über Luxemburg und durch Belgien bis Mons nicht weit von Brüssel. Sein Ziel ist die „Apostolische Schule" des Jesuitenordens, die Ecole Apostolique d'Amiens", die sich zu dieser Zeit in Belgien befindet.
Von da an lebt Peter Lorson in französischem Milieu. 1915 tritt er, ebenfalls in Belgien, ins Noviziat des Jesuitenordens ein. Inzwischen ist der Erste Weltkrieg ausgebrochen und Belgien von der deutschen Armee besetzt worden. Bei einer Ausweiskontrolle fällt auf, dass dieser junge Deutsche, der er ja immer noch ist, bis dahin keinen Militärdienst geleistet hat. Er wird einberufen und nach kurzer Ausbildung zunächst an die russische Front geschickt, dann nach dem Waffenstillstand dort 1917 nach Nordfrankreich. Weil er Französisch versteht, wird er in eine Abhörabteilung eingegliedert. Sein Bericht über diese Zeit liest sich wie eine Abenteuergeschichte. Die Schuld an diesem Krieg sieht er eher beim deutschen Kaiserreich als bei der französischen Republik, und so ist es ihm nicht unwillkommen, dass er in französische Gefangenschaft gerät, wo er sich als Elsaß-Lothringer ausgibt. Er kommt in ein entsprechendes Gefangenenlager, meldet sich zur französischen Armee und wird zur Marine eingezogen. Darüber geht der Krieg zu Ende.
Nach dem Krieg folgen die für Jesuiten üblichen langen Studienjahre, für kurze Zeit in England, meistens in Frankreich. Nun wird Peter Lorson französischer Staatsbürger und nennt sich als solcher Pierre. 1929 wird er zum Priester geweiht und kann in seiner Heimatkirche St.Gangolf in Differten im Kreis seiner Familie Primiz feiern. Gerne wäre er als Missionar in ferne Länder gegangen, während seiner Ausbildung in der Apostolischen Schule hat er von China geträumt, aber die Ordensoberen bestimmen einen anderen Weg für ihn: Zunächst wird er Lehrer in Lille, dann Seelsorger und Prediger in Straßburg. Auf der Kanzel des Münsters hat er großen Erfolg.
Als im September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht, wird Pierre Lorson eingezogen und für kurze Zeit als Sanitäter eingesetzt bei den Einheiten, die die Maginot-Linie im Unterelsaß besetzt halten, danach tut er dort und in den Vogesen Dienst als Militärpfarrer. Nach dem Waffenstillstand im Sommer 1940 aus der Armee entlassen, begibt er sich nach Südfrankreich in den unbesetzten Teil des Landes, weil er sonst mit seiner Verhaftung rechnen müsste. Er betätigt sich als Lehrer im Priesterseminar in Fréjus und als Prediger in verschiedenen Orten an der Côte d'Azur. Erst im Frühjahr 1945 gelingt ihm die Heimkehr nach Differten, wo er seine Schwestern mit ihren Familien wieder trifft, nicht aber seine Eltern. Dass sein Vater tot ist, weiß er, jedoch nicht, dass seine Mutter im Februar 1945 während der Evakuierung gestorben ist.
Nach dem Krieg kehrt Pierre Lorson an seine alte Wirkungsstätte aus der Vorkriegszeit zurück, nach Straßburg. In der Stadt, in der bald der Europarat seinen Sitz haben wird, wirkt er wieder als Prediger im Münster und in mehreren katholischen Organisationen, schreibt Artikel für Zeitschriften und Tageszeitungen, auch saarländische, und verfasst Bücher. Er nimmt Anteil an den Nachkriegsereignissen in seinem Heimatland an der Saar. 1954 lädt ihn die französische Gemeinde an der Saar ein, in der Christ-König-Kirche in Saarbrücken-St.Arnual die Fastenpredigten zu halten. Während einer Predigt bricht er zusammen und stirbt am 6. Mai 1954 in einem Saarbrücker Krankenhaus. Er wird in seinem Heimatdorf Differten begraben.
Während der gebürtige Saarländer und Wahlfranzose Peter Lorson auf der Kanzel des Straßburger Münsters predigte, tat dies im nur wenige Kilometer von der elsässischen Hauptstadt entfernt gelegenen Dörfchen Behlenheim der gebürtige Elsässer Karl Pfleger. In seinem Pfarrhaus „im Schatten des Kirchturms", so der Titel seines ersten Werkes, stand er in Briefwechsel mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten, auch mit Peter Wust, schrieb Bücher über russische und deutsche Philosophen und französische Schriftsteller und setzte sich mit den Ideen und Vorstellungen des Philosophen und Paläontologen Teilhard de Chardin aus dem Jesuitenorden auseinander. Er mag wohl eher ein beschauliches Leben geführt haben; dagegen wurde Peter Lorson wie ein Abenteurer von den Zeitereignissen herumgetrieben. Kannten sie sich? Zumindest müssen sie von einander gewusst haben, erstrebten sie doch dasselbe Ziel, wenn auch auf jeweils eigenen Wegen. Vielleicht waren sie zu verschieden, um einander näher zu kommen.
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Quellen:
- René Baltus: Pater Lorson, Grenzländer - Domprediger - Europäer. 1897 - 1954. Malstatter Beiträge aus Gesellschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur. Gollenstein Verlag.
- Peter Burg: Saar-Franzose. Peter/Pierre Lorson SJ. Paulinus Verlag.
Fotos:
- Vorschaubild:Das Christusmonogramm IHS, wird bei den Jesuiten wird als Kurzform von Iesum Habemus Socium („Wir haben Jesus als Gefährten") und Ordenssymbol gebraucht.
- Das Foto von Peter Lorson wurde dem o.g. Buch "Pater Lorson, Grenzländer - Domprediger - Europäer" entnommen - mit freundlicher Genehmigung des Gollenstein Verlags.