Manfred und Michael fuhren zur Spicherer Höhe hinauf. Die Straße zog sich in einer Serpentine durch das Gelände der historischen Schlacht zwischen Deutschen und Franzosen.
»Hat der Braun da mitgekämpft?«, fragte Michael.
»Mein Lieber - die Schlacht fand im Jahr 1870 statt.«
»Schon vor so langer Zeit? Geschichte war nie meine Stärke.«
»Die deutschen Truppen wurden damals von einem Mann mit französischem Namen, die französischen Soldaten von einem mit deutschem Namen befehligt.«
»Wer hat gewonnen?«
»Die Deutschen mit dem Franzosen.«
»Und der Braun war wirklich nicht dabei?«
Sie waren am Restaurant Woll, einem Lothringer Landgasthof und beliebten Treffpunkt, angekommen. Zwei ehemalige Mitschüler warteten schon auf sie. Wolfram Hardfüßer, der ehemalige Klassensprecher, war Staatsanwalt in Bonn. Alfons Lauer war als Diplomingenieur bei einer Frankfurter Firma beschäftigt und arbeitete meist im Orient. Der fünfte, der jetzt noch fehlte, war Karl-Georg Steinmetz. Er war Bundestagsabgeordneter. Als Politiker hatte er sich daran gewöhnt, zu spät zu kommen.
Es war Mittagszeit. Der Ober kam an den Tisch und empfahl das Menü des Tages. Er betonte das Wort Menü nach Lothringer Art auf der ersten Silbe und bot auch den dazu passenden Wein an: einen Elsässer Riesling.
Inzwischen stieß auch Karl-Georg zu ihnen, und sie konnten mit den Vorbereitungen für das Geburtstagskind beginnen.
Das Geschenk für den alten Braun war in diesem Jahr von Alfons besorgt worden. Es war eine in Leder gebundene Bibel aus dem Jahr 1900, dem Geburtsjahr des Lehrers.
»Hat die nicht zu viel gekostet?« fragte Wolfram.
»Ich habe sie preiswert auf einem Basar in Beirut gekauft.« Der Oberstudienrat hatte sich ausbedungen, dass das Geburtstagsgeschenk nicht über fünfzig Mark kosten dürfe, für jeden von ihnen also zehn. Anfangs durften es sogar nur fünf Mark pro Schüler sein. Dann aber hatte Braun auf Drängen der Fünf die Höchstgrenze auf acht und schließlich auf zehn Mark herauf gesetzt und den Betrag damit in bescheidenem Umfang der Inflation angepasst. Für Frau Braun hatte Manfred in einem Blumenladen einen bunten Strauß bestellt. Hierfür hatte der Lehrer keinen Höchstpreis vorgeschrieben.
»Wisst ihr, was mir passiert ist?«, fragte Manfred. »Im Urlaub habe ich einen Doppelgänger von Klaus Melchior getroffen. Erst dachte ich, er wäre es selbst. Ich habe ihn angesprochen, doch er kam aus Schottland. Weiß einer von euch, was aus Melchior geworden ist?«
Die vier anderen schüttelten den Kopf.
Karl-Georg griff sich an die Stirn, als ob er in alten Erinnerungen kramen wolle. »Den hat der Braun in den Senkel gestellt, und am Jahresende ist er dann sitzen geblieben und von der Schule abgegangen.«
»Damals war Braun sehr ungerecht«, meinte Wolfram. »Zugegeben, Melchior hat oft seine Hausaufgaben nicht gemacht, und eigenbrötlerisch war er auch. Doch einem Jungen in diesem Alter zu sagen, dass er einmal in der Gosse landen werde, war schon sehr hart. Ich habe den Braun nie verstehen können, bis heute nicht. Streng war er ja immer, aber den Melchior muss er gehasst haben. Es würde mich sehr interessieren, was Klaus heute macht.«
Manfred bekräftigte ebenfalls sein Interesse an Melchior. »Der Braun wird allerdings gleich fragen, was aus uns inzwischen geworden ist.«
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Text: Auszug aus dem Roman "Papier gegen Kälte" von Florian Russi. Bertuch Verlag 2008.
Fotos: Florian Russi