Karl kniete vor einem Grabmal und bürstete Moos vom Sockel. Dies war keine Arbeit für einen Mann seines Alters, aber ohne große Anstrengung und an frischer Luft. Seit seine Frau hier lag, kam er häufig, um bei ihr zu sein und mit ihr zu sprechen. Heute konnte er sogar Geld dabei verdienen. Er wusste sie in seiner Nähe, dort hinter den Bäumen in dem neuen Urnenfeld. Die großen alten Grabmale standen im westlichen Teil. Den Sandstein säubern und den Marmor aufpolieren, so lautete sein Auftrag bei diesem dreigeteilten Mal. Seit ihrem Tod war sein Meißel unsicher geworden und so gab ihm sein Chef nur noch Aufträge, bei denen nicht viel zu Bruch gehen konnte.
Utili, der kleine Kobold, trieb sich gern an schulfreien Tagen auf Friedhöfen herum und von allen Saarbrücker Friedhöfen war ihm der von St. Johann am liebsten. Er saß für Menschen unsichtbar auf einem Ast und hielt nach Opfern Ausschau, denn nach Blumenvertauschen war ihm heute nicht. Keine Besucher weit und breit, kein einsamer Betender, den er mit seiner Stimme hätte erschrecken können. Dabei wollte er so gerne seine neuen Zaubersprüche ausprobieren. Da entdeckte er zwischen zwei Grabsteinen die gefleckte Katze, der er schon öfters das Herumstreunen verleidet hatte. Er murmelte seinen neuesten Spruch und schon griff er ihr ins Fell und ritt auf ihr quer über den Friedhof.
Katzen sind zwar freundliche Tiere, aber auch voller List und so steuerte sie direkt auf eine schwere Kette zu. Utili grölte seinen Entmaterialisierungsspruch und hing schon für alle sichtbar über der Kette, noch ehe er damit fertig war. Die Katze trottete zufrieden ihrer Wege. Utili fluchte aus vollem Herzen. Er rutschte von der Kette und verdrückte sich hinter den nächsten Grabstein, während er verschiedene Sprüche murmelte. Er hätte schwören können, dass sich seine Nachhilfe bei der alten Eusebie gelohnt hatte.
Karl fasste sich an den Kopf. Mäuse, besonders weiße, hatte er schon öfter Ringelreihen tanzen sehen, aber ein lebender Gartenzwerg war ihm noch nicht untergekommen. Doch ehe er sich vergewissern konnte, war dieser verschwunden. Er nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche und machte sich wieder ans Bürsten.
Utili kannte mehr Sprüche, als ein Kobold seines Alters eigentlich wissen durfte. Die Fee Eusebie hatte ihn gern und ließ ihn schon einmal allein in ihrem Studierzimmer. Solche Gelegenheiten nutzte er dann regelmäßig, um in ihren alten Büchern zu blättern. So kannte er viele Sprüche, wenn auch nicht immer dann, wenn er sie brauchte.
Karl legte den etwas zu langen Holzbohlen auf Leiter und Grabmal, um den erhöhten Mittelteil säubern zu können. Dies tat er dann mit soviel Hingabe, dass Utili ihm den Spaß noch etwas verlängern wollte. Ein kurzer Spruch und schon wuchs das Moos wieder nach. Karl bürstete es weg, und wieder weg und es wuchs zum dritten Mal.
Wütend stieg er die Leiter hinab, nahm einen kräftigen Schluck Bier und sah einen grünen Sockel vor sich. Schnaubend trat er gegen die Leiter. Utili, über seinen Erfolg entzückt, verstärkte den Tritt mit einem Sprüchlein und die Leiter fiel um. Der Bohlen rutschte dabei vom Grabmal und schlug gegen die Figur auf dem Nachbargrab. Diesen Schlag hätte der Engel wegstecken können, wenn nicht im Lauf der Jahre die Verbindungsstange zwischen ihm und Sockel gerostet wäre. So kippte der Engel vornüber und zerbrach auf der Grabeinfassung.
Karl tobte. Dieser Unfall würde ihn mindestens einen Monatslohn kosten. Für Utili bedeutete er mindestens zwei Wochen Stubenarrest und seine Lehrer würden herausfinden, was er schon alles wusste und von wem. Arme Eusebie!
Karl betrachtete die Misere aus der Nähe und stellte fest, dass an dem Einzelgrab schon seit Jahren die Namensplatte fehlte. Ärger mit aufgebrachten Angehörigen würde er also keinen haben. Mit einem Zug leerte er seine Flasche und lud die Bruchstücke in seine Schubkarre.
Utili hätte gern Eusebie gerufen, schließlich haben Feen immer einen Trumpf in der Hinterhand. Aber eine Tracht Prügel wäre ihre Aufwandsentschädigung und dafür war er sich schon zu alt. So blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er stellte sich auf dem Sockel in Positur und begann mit zitternder Stimme die erforderlichen Sprüche leise aufzusagen.
Irgendwie fühlte sich Karl beobachtet und glaubte ein Flüstern zu hören. Er schaute sich um, sah aber niemanden. Er wischte sich über die Stirn, zog die Mütze zurecht und sah in diesem Augenblick die Figur wieder auf ihrem Sockel stehen. In einem langen Gewand, mit wallendem Haar und zwei Flügeln, den Körper nach rechts und den Kopf nach links gedreht, hielt sie eine Rose in der rechten und einen Palmwedel aufrecht in der linken Hand.
Karl hatte sich die ursprüngliche Figur nur im Vorbeigehen angeschaut, aber für ihn sah dieses Ding aus, wie die zerbrochene, nur lebendiger.
Utili war glücklich, den Schaden alleine zu beheben. Die Versteinerung begann bereits und in wenigen Augenblicken konnte er die Figur mit einem letzten Spruch verlassen.
Karl konnte das alles nicht fassen, soviel hatte er doch nicht getrunken. Er griff sich ein Bruchstück aus seiner Karre und warf ihn gegen diesen Spuk. Ehe Utili reagieren konnte, schlug der Stein das untere Ende des linken Flügels ab. Die Figur erbebte, Utili zerbrach die Rose in seiner Hand und die war fester Stein, bevor sie herunterfallen konnte. Utili selbst wurde zu Stein und Traurigkeit war das letzte, was seine Lippen formen konnten.
Karl klopfte vorsichtig gegen den Engel, der da stand, verwittert, Sandstein durch und durch. Er zuckte mit den Schultern, bürstete das Moos, das nun nicht mehr nachwuchs, vom Grabmal und fuhr zufrieden mit den Bruchstücken vom Friedhof.