November 1944. Von der Front im Westen hatten wir keine verlässliche Nachricht. Wir brauchten keine, sahen und hörten wir doch, was los war. Aus Lothringen kamen Bauern, die im Krieg von der deutschen Verwaltung in Höfe eingewiesen worden waren, deren Bewohner vertrieben worden oder geflohen waren. Sie lenkten ihre Wagen und trieben ihr Vieh durch mein Heimatdorf Wehrden; den Kanonendonner hörten wir immer deutlicher; der englische Sender, den unsere Mieterin abends abhörte, meldete, die amerikanische Armee habe das Saartal bei Merzig erreicht. „Die lügen auch", meinte sie. Meine Mutter sagte: „Vielleicht geht es schnell. Ich gehe nicht mehr weg wie 1939." Sie konnte nicht ahnen, welche Folgen dieser Entschluss für die Familie haben würde.
Als Anfang Dezember die ersten Granaten in Wehrden einschlugen, geriet sie in Panik - es war das einzige Mal, und es stand uns viel Schlimmeres bevor. Trotz Beschuss liefen wir etwa 500m die Hauptstraße hinunter und suchten Schutz in einem im Krieg zum Luftschutzbunker ausgebauten ehemaligen Grubenstollen. In den folgenden Tagen blieben wir bei einer uns bekannten Familie in der Nähe des Stollens.
Den ersten Amerikaner sah ich am 6. Dezember, am Nikolaustag. Wegen des starken Beschusses saßen wir mit mehreren Familien im Schutzraum des Stollens. Da kam eine junge Frau aus dem Haus gegenüber von draußen herein und sagte laut, dass alle es hören konnten, aber doch ganz unpathetisch, als hätte sie etwas ganz Alltägliches mitzuteilen: „Hier bringe ich euch einen Amerikaner", und zeigte auf den mit einem Gewehr bewaffneten Soldaten hinter ihr. Alle waren stumm vor Überraschung. Was mag sich der Soldat gedacht haben, während er Anni durch den engen, niedrigen Gang gefolgt war, der ihn 60m unter die Erde geführt hatte? Er bedeutete uns, fürs erste unten zu bleiben. Dann verschwand er wieder mit seiner Begleiterin, die ihm mit ihrem Teelicht den Weg hinauf zeigte. Zunächst wagten wir uns nicht in unser Haus zurück, sondern blieben bei den Bekannten. Erst nach einigen Tagen entschloss sich mein Vater, hinaufzugehen und eingeweckte Lebensmittel herbeizuschaffen. Er kam nicht zurück.
Für Hin- und Rückweg und einen kurzen Aufenthalt hätte er kaum mehr als eine halbe Stunde gebraucht. Es verging eine Stunde und noch eine, da sagte meine Mutter: „Wir gehen den Papa suchen." Vor dem Haus, in dem unser Schuster seine Werkstatt hatte, lag ein toter Amerikaner. Er war auf das Gesicht gefallen, der Helm war ihm nach vorne gekippt. Meine Mutter blieb einen Augenblick stehen und schlug ein Kreuz. Als wir in unsere Straße einbiegen wollten, trat ein Soldat aus dem Eckhaus, hielt uns die Maschinenpistole vor und bedeutete uns, der Hauptstraße zu folgen, während er mit seiner Waffe hinter uns ging. Dann mussten wir einen Jeep besteigen. Vorn saß der Fahrer, hinten unser Bewacher, meine Mutter und ich in der Mitte. Die Fahrt ging zuerst nach Wadgassen und wieder zurück nach Schaffhausen. Man führte uns in ein Haus, in dem sich viele Soldaten drängten. Einer fragte in fehlerfreiem Deutsch, was wir wollten. Meine Mutter fragte zurück, was mit ihrem Mann geschehen sei. Darauf der Amerikaner: „Ich bin nicht hier, um Ihnen Auskunft zu geben. Wir kommen als Ihre Feinde, nicht als Ihre Freunde", und gab unserem Bewacher einen Wink, uns zurückzubringen. Der ließ uns dort aussteigen, wo wir eingestiegen waren, ohne uns weiter zu begleiten. Wir gingen zu unserem Haus und fanden es so, wie wir es Tage zuvor verlassen hatten. „Der Papa war nicht da", sagte meine Mutter, „den haben sie genau so geschnappt wie uns. Aber was haben sie mit ihm gemacht?"
An den folgenden Tagen wurde das Leben für die wenigen zurückgebliebenen Familien schwierig. Es stellte sich heraus, dass wir zwischen den Fronten lebten. Mal hatten wir „Besuch" von den Amerikanern auf dem Hof, mal von den Deutschen. Es war gefährlich. Die Erwachsenen besprachen sich, wie sie aus dieser Lage herauskämen. Da zur deutschen Seite hin die Bahn- und die Saarbrücken gesprengt waren, blieb als Ausweg nur, hinter die amerikanische Front zu gehen. Die Bauern packten die Wagen und spannten die Zugtiere an, meine Mutter und ich beluden unseren Handwagen mit den wenigen Habseligkeiten, dann machten wir uns auf den Weg nach Schaffhausen. Die Amerikaner tasteten die Männer nach Waffen ab und ließen uns passieren. In Schaffhausen wiesen sie uns leer stehende Häuser an. Damit waren wir der unmittelbaren Gefahr entronnen. Deutsche Artillerie schoss nicht herüber. Aber was war mit meinem Vater geschehen? Das beschäftigte alle, am meisten natürlich meine Mutter. Wir befürchteten das Schlimmste, aber die Sache ging gut aus. Kaum zwei oder drei Tage waren wir in Schaffhausen, da kam er zurück. Es war der 18. Dezember. Eine Woche lang waren wir ohne Nachricht von ihm und hatten zudem „die Front gewechselt". Ich stand vor dem Haus, da sah ich ihn unten die Straße heraufkommen, drei oder vier Brote unterm Arm, als wäre er beim Bäcker gewesen.
Er erzählte: „Die Amis haben mich an der Ecke zu unserer Straße geschnappt. Sie hatten einen Stolperdraht über die Seitenstraße gespannt, daran war ich hängen geblieben, ich hatte ihn übersehen. Mit einem Jeep brachten sie mich nach Schaffhausen, wo mich ein Offizier verhörte und meine Papiere prüfte. Ich musste ihm den Unterschied zwischen einem Wehrpass, wie ich ihn bei mir hatte, und einem Soldbuch erklären. Dann brachten sie mich über die Grenze nach Lothringen, nach Creutzwald. In einer Wirtschaft wurde ich einquartiert und musste mich täglich morgens und abends bei den Amerikanern melden. Zwei alte Bekannte aus Geislautern (Nachbardorf von Wehrden), die sie schon früher einkassiert hatten, waren im selben Haus untergebracht. Wir aßen und schliefen in der Wirtschaft, tagsüber ließ man uns an den umliegenden Häusern Kriegsschäden wie zerbrochene Fensterscheiben reparieren. Natürlich heckten wir Fluchtpläne aus. Heute Morgen meldeten wir uns bei den Amis, dann machten wir uns mit unserem Handwerkszeug am Dorfrand zu schaffen, wo der Warndtwald anfängt. Als wir uns unbeobachtet fühlten, verschwanden wir im Wald und folgten den bekannten Wegen. Gefährlich wurde es, als wir die Verbindungsstraße zwischen Werbeln und Ludweiler überqueren mussten. Sie wurde stark von amerikanischem Militär befahren. Als wir kein Motorengeräusch hörten, liefen wir hinüber und hielten uns weiterhin im Wald bis nach Geislautern. Dort arbeitet noch ein Bäcker, und ich konnte Brot kaufen. Die zwei anderen waren daheim und wünschten mir Glück für den Rest des Weges bis nach Wehrden. Ich ging über den Galgenberg und hielt mich im Wald bis zu den ersten Häusern, dann im Schutz der Gärten bis dahin, wo ich euch vor acht Tagen verlassen hatte, und fand euch nicht, keine Menschenseele da. Ich war am Ziel, aber ratlos, wohin ich jetzt gehen sollte, um euch zu suchen."
Völlig niedergeschlagen muss mein Vater auf der Straße gestanden haben. Aber es war eben doch eine Menschenseele da. Aus seinem Haus trat der Bruder des Bauern, bei dem wir Unterschlupf gefunden hatten. „Wo ist meine Frau, wo ist mein Bub?" fragte mein Vater. Der Gefragte konnte vor Verwunderung kaum antworten. „Die sind in Schaffhausen wie die anderen alle", brachte er schließlich heraus, „aber wo kommst du denn her?" - „Ich bin den Amis abgehauen. Wieso bist du allein hier, und die anderen sind in Schaffhausen?" - „Wir sind alle dort, ich auch. Hier war es nicht mehr auszuhalten. Ich bin nur hergekommen, weil ich etwas vergessen hatte. Jetzt gehe ich wieder zurück, ich bin hier fertig. Komm mit, die werden uns schon durchlassen. So genau nehmen sie's nicht."
So kamen wir wieder zusammen.