Nach dem Krieg arbeitet Paul wieder als Bergmann. In der Saargebietszeit zwischen 1920 und 1935 stehen die saarländischen Kohlegruben unter französischer Verwaltung. Viele Posten werden von Franzosen, namentlich Lothringern besetzt. Wer weiterkommen will, muss sich gut mit ihnen stellen, z. B. seine Kinder in der französischen Schule anmelden. Marie besucht die Volksschule im Dorf wie die meisten Kinder. Danach schicken sie die Eltern für zwei Jahre in ein Mädchenpensionat in Lothringen, das von Ordensschwestern geleitet wird. Dort lernt sie Französisch und wird in den hauswirtschaftlichen Fächern unterrichtet.
Marie ist noch sehr jung, als sie einen jungen Lothringer aus einem Dorf im Bitcher Land kennenlernt. Joseph arbeitet in der Verwaltung der Saargruben. Vater Paul hat Vorbehalte gegen diese Verbindung; sei es, dass er seine Tochter für zu jung hält; dass sich Veränderungen in den politischen Verhältnissen des Landes ankündigen, die es nicht geraten erscheinen lassen, eine Verbindung über die Grenze hinweg einzugehen; vielleicht gefällt ihm aber auch der junge Lothringer nicht, in dessen Charakter er zum Abenteurertum neigende Züge zu erkennen glaubt.
Marie und Joseph heiraten noch vor der Mitte der dreißiger Jahre. Ihre ersten Versuche, im Leben Fuß zu fassen, scheinen eine der Befürchtungen von Maries Vater zu bestätigen. Eine Zeitlang führen sie ein Kino an der Place Blanche im Norden von Paris, dann betreiben sie eine Autowerkstatt mit Tankstelle in einer kleinen Stadt im Saulnois südöstlich von Metz. Dort kommt 1938 die Tochter Anne auf die Welt.
Inzwischen haben sich auf der anderen Seite der Grenze tiefgreifende Veränderungen abgespielt. Die Abstimmung im Januar 1935 ist zu Gunsten Deutschlands ausgegangen, wo seit zwei Jahren Hitler Reichskanzler ist. Wer vorher gut mit den Franzosen gestanden hat, hat jetzt schlechte Karten. Paul ist keiner, der sein Mäntelchen in den Wind hängt, und dazu gläubiger Katholik. Seine Überzeugung verbietet es ihm, sich den neuen Herren anzudienen. Die lassen ihn bald spüren, was sie von ihm halten.
Die nationalsozialistische Regierung stellt ihre 4-Jahres-Pläne für die Wirtschaft auf. Sie sind Teile der Vorbereitung für einen kommenden Krieg. Dazu gehört das Bestreben, Deutschland möglichst unabhängig zu machen von Rohstofflieferungen aus dem Ausland. Selbst unergiebige Erzlager werden ausgebeutet. 1937 beginnen die „Reichswerke Hermann Göring" damit, in der Nähe von Salzgitter Eisenerzgruben zu gründen. Um die Schächte abzuteufen, braucht man erfahrene Fachleute, die man aber in jener dünn besiedelten Gegend nicht findet. Man wirbt sie aus anderen Reichsteilen an, bietet höhere Löhne, wendet aber auch weniger „freundliche" Methoden an wie politischen Druck, Drohung, Dienstverpflichtung.
So siedeln Paul und Margarete aus ihrer Heimat an der Saar in ein Dorf bei Salzgitter über, und statt weiterhin in eine saarländische Kohlengrube einzufahren, arbeitet Paul nun beim Abteufen der Schächte für den Erzbergbau in Niedersachsen, und die Entfernung zu Tochter Marie, Enkelkind Anne und Schwiegersohn Joseph in Lothringen ist sehr viel größer geworden.
Schon 1938 sieht es nach Krieg aus; im Sommer 1939 wird es Ernst. Als Reservist der französischen Armee wird Joseph mobilisiert und muss Frau und Töchterchen verlassen. An einem Augusttag 1939 kommt Marie mit der kleinen Anne bei Saarbrücken über die Grenze und klopft bei ihrer Tante und den Großeltern an. Zwei Tage bleibt sie bei den saarländischen Verwandten, dann reist sie zu ihren Eltern nach Salzgitter weiter.
Im Mai oder Juni 1940 gerät Joseph in deutsche Gefangenschaft. Da er beide Sprachen beherrscht, dient er im Lager als Dolmetscher und kommt mit Offizieren der deutschen Lagerverwaltung ins Gespräch. Dabei stellt sich heraus, dass einer von diesen während des Krieges 1914/18 mit seinem Schwiegervater bekannt war und sich an diesen erinnert. So erfährt die Familie bei Salzgitter, dass Joseph den Frankreichkrieg überlebt hat.
Man hofft auf ein baldiges Wiedersehen. Marie bewirbt sich um eine Stelle bei der deutschen Militärverwaltung im besetzten Metz, auch mit dem Hintergedanken, näher zu Hause zu sein und etwas für ihren Mann tun zu können. Es gelingt nicht. Im Sommer 1944 nähern sich die alliierten Armeen Ostfrankreich. Marie verlässt Metz und fährt zu ihren Eltern nach Salzgitter. Die kleine Anne ist inzwischen zu einem Schulmädchen herangewachsen.
Der Krieg geht zu Ende, und die Familie bereitet ihre Rückkehr an die Saar vor. 1948 ist es endlich so weit: Paul bekommt auf der Grube eine Anstellung als Steiger über Tage, Marie eine Stelle bei der Verwaltung der Saarbergwerke in Saarbrücken, und die Familie kann in einem Grubenhaus wohnen; einige Jahre später gelingt es ihnen sogar, ein Grundstück zu erwerben und ein Haus zu bauen. Josephs weiteres Schicksal bleibt ungewiss. Maries Nachforschungen haben keinen Erfolg.
Margarete stirbt in den späten fünfziger Jahren, Paul überlebt sie um mehr als ein Jahrzehnt. Beide finden ihre letzte Ruhe in ihrem Heimatdorf. Marie arbeitet bis zu ihrer Pensionierung in Saarbrücken. Als sie alt ist und nicht mehr allein bleiben kann, nimmt Anne sie zu sich. Sie wohnt inzwischen in Lothringen im Heimatort ihres Vaters. Dieser Umstand war indessen kein Grund, dahin zu ziehen. Ausgerechnet dort hat sie ein Haus gefunden, das ihr zusagt, und dort vollendet sich Maries Leben.
Anne hat inzwischen die 70 überschritten. Die Arbeit mit dem Haus und dem großen Grundstück in Lothringen ist ihr über den Kopf gewachsen. Sie hat das Anwesen verkauft und lebt jetzt in einer Etagenwohnung auf der saarländischen Seite.
* Die Namen der Familienmitglieder wurden vom Autor geändert.
*****
- Vorschaubild: Fotomontage von Rita Dadder unter Verwendung einer Karte der Großregion: Urheber: Staatskanzlei des Saarlandes, Lizensiert von EPei at de. Wikipedia unter CCB-SA 3.0, Quelle: Wikimedia Commons
- Fotos und Fotorechte: by Hans Herkes