Mein Großvater kannte alle Wege und Pfade. Entlang einem auf langer Strecke geradeaus verlaufenden Feldweg standen in Abständen Steine. „Das ist die Grenze zwischen dem Wehrdener und dem Schaffhauser Bann", sagte mein Großvater, „und da vorne im Wald geht es nach Werbeln hinunter." Die Steine stehen heute noch; von Regen und Frost verwittert, kommen sie mir kleiner vor als zu meiner Kinderzeit.
Folgt man dem Weg und geht in gleicher Richtung ein kurzes Stück in den Wald hinein, so trifft man auf einen Stein, der wohl seine ursprüngliche Größe noch hat, aber fast ganz von Moos bedeckt ist. Man glaubt zu erkennen, dass darunter eingemeißelte Zeichen, Zahlen oder Buchstaben zu erkennen sind, etwa ein großes, aber seitenverkehrtes Z, doch ist alles sehr undeutlich.
Des Rätsels Lösung findet sich ein Stück weiter hangabwärts. Dort steht ein Stein, der weder bemoost noch sehr verwittert ist. Er ragt etwa 1 m aus dem Waldboden hervor und hat einen quadratischen Querschnitt von 40 cm Seitenlänge. Alle eingemeißelten Zeichen sind gut zu erkennen: eine Lilie und auf der Gegenseite das verkehrte Z mit den Buchstaben NS, auf der dritten Seite 42 und ihr gegenüber 1769. Wem fällt bei dieser Jahreszahl nicht ein, dass in jenem Jahr auf der Mittelmeerinsel Korsika ein Knabe geboren wurde, der nach der Revolution der Kaiser der Franzosen wurde: Napoleon Bonaparte. Damals blieb nichts mehr, wie es vorher war, auch nicht die Grenzen. Daran erinnert dieser Stein im Wald.
Mein Großvater hatte mir richtig erklärt, dass hier die Grenze zwischen Wehrden auf der einen Seite und Schaffhausen und Werbeln auf der anderen Seite verlief; dass es einmal eine Staatsgrenze war, wusste er nicht. Das aber erzählt dieser Stein. Die Lilie ist das Zeichen für das Königreich Frankreich. Den französischen Königen wurde ein Banner mit einer stilisierten Lilienabbildung - la Fleur-de-Lys - vorausgetragen. auch das Banner der Jeanne d'Arc zierten diese Blumen. Das Zeichen auf der Gegenseite ist nicht der Buchstabe Z, sondern es stellt eine Wolfsangel dar. Das war in früherer Zeit ein etwa 10 cm großes Eisen mit Widerhaken, das man, mit einem Köder bestückt, an einem Baum aufhängte, so dass ein hungriger Wolf danach springen musste und hängen blieb. Die beiden Buchstaben NS verraten, zu welchem Herrschaftsbereich das Gebiet auf dieser Seite gehörte: zur Grafschaft Nassau-Saarbrücken. Von den beiden Zahlen ist die eine die Nummer des Steins und die andere, wie schon angedeutet, die Jahreszahl, wann er gesetzt wurde.
Warum wurden 1769 diese Grenzsteine gesetzt? Das Gebiet der Prämonstratenserabtei Wadgassen gehörte zur Grafschaft Saarbrücken. Die Saarbrücker Grafen waren die Schutzherren des Klosters, und im Mittelalter war die Abtei deren Grablege. Als im 16. Jahrhundert in der Grafschaft die Reformation eingeführt wurde, ergab sich das ungewöhnliche Verhältnis, dass die evangelisch gewordenen Grafen Schutzherren der katholisch gebliebenen Abtei waren. Im 18. Jahrhundert gab es einen Jahrzehnte dauernden handfesten Streit zwischen dem Saarbrücker Grafen und dem Wadgasser Abt um den Gewinn aus den auf dem Gebiet der Abtei gegrabenen Kohlen. Die Kontrahenten gingen mit ihrer Sache bis zum Reichskammergericht in Wetzlar, das im Großen und Ganzen zu Gunsten der Abtei entschied. Schließlich kam es zwischen dem Fürsten Wilhelm Heinrich von Nassau-Saarbrücken und der Regierung Ludwigs XV. von Frankreich zu Verhandlungen über einen Gebietstausch, die 1766 mit einem Vertrag endeten. Das Kloster mit den dazu gehörenden Dörfern - es sind dieselben, die jetzt zur Bürgermeisterei Wadgassen gehören: Hostenbach, Schaffhausen, und Werbeln - wurde an Frankreich abgetreten, ehemals lothringische Dörfer und Höfe im Köllertal und angrenzenden Gebieten kamen zu Saarbrücken. An dieses Ereignis erinnern die 1769 gesetzten Grenzsteine mit der Lilie und der Wolfsangel.
Zwanzig Jahre später brach die Französische Revolution aus. Fürst Ludwig von Nassau-Saarbrücken, der Sohn Wilhelm Heinrichs, floh über den Rhein und kehrte nicht zurück. Die französische Monarchie wurde gestürzt und Ludwig XVI. hingerichtet. Die Prämonstratenserabtei Wadgassen, für kurze Zeit das einzige und letzte Kloster, das es auf französischem Boden gab, wurde aufgelöst, die dazu gehörenden Güter wurden teils verstaatlicht, teils versteigert. Im September 1792, in diesen Tagen vor 220 Jahren, verließ der letzte Abt, Michael Stein, mit den Chorherren das Kloster. Sie setzten über die Saar nach Bous. Von dort ging ihre Flucht weiter. Der Abt fand Zuflucht in Prag.
Der Stein im Wald bei Werbeln mit der französischen Lilie auf der einen und der Saarbrücker Wolfsangel auf der anderen Seite hat fast zweieinhalb Jahrhunderte überdauert und steht immer noch an seinem Platz, die Grenzen haben sich in dieser Zeit mehr als einmal verändert.
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Quellen:
- Michael Tritz, Geschichte der Abtei Wadgassen:
- Albert Ruppersberg, Geschichte der ehemaligen Grafschaft Nassau-Saarbrücken:
- Harald Kaufmann, Grube Hostenbach.
Fotos: Hans Herkes
Das Vorschaufoto zeigt den verwitterten und bemoosten Grenzstein am Waldrand.