Die Erwachsenen unter uns verstanden die Botschaft sofort. Saarhölzbach war Zollstation, als das Saarland nach dem 2. Weltkrieg unter politischer bzw. wirtschaftlicher Dominanz Frankreichs stand. Allein die Vorstellung vom Zoll war schon aufregend, obwohl niemand im Abteil die Absicht hatte, unerlaubt Waren außer Landes zu befördern. Außer Kaffee natürlich, echter Kaffee war damals „im Reich" ein Luxusgut und wurde von den Verwandten oder Bekannten, die man dort besuchen wollte, unnachgiebig erwartet.
Was sollte man also tun? Man schmuggelte ihn nicht, man hatte ihn dabei und weil man wusste, wie neugierig Zöllner sein konnten, im Mantel oder ganz unten im Koffer inmitten schmutziger Wäsche versteckt.
Wenn es nun das Unglück so wollte, kam nicht ein gewöhnlicher, vielleicht sogar verständnisvoller Zöllner ins Abteil, sondern das lebendige Unheil persönlich, die Frau, die alle „Bösmadamm" nannten. Sie war als streng und kleinlich gefürchtet und es gab ungezählte Geschichten über sie. Einige Male habe sie völlig Unschuldige von Polizisten abführen lassen, andere Male harmlose Reisende willkürlichen Verhören unterzogen. Jemand wusste auch zu berichten, dass wiederum jemand anderes zufällig in Lothringen gesehen hätte, wie die Bösmadamm ausgesprochen liebevoll mit ihren kleinen Enkeln, Neffen oder Nichten umgegangen sei.
Im Dienst durfte man keine freundlichen Regungen von ihr erwarten. Ein älterer Herr, der mir gegenüber saß, wischte sich den Schweiß von der Stirne und kramte ein Fläschchen mit Hoffmannstropfen aus seinem Gepäck. „Die beruhigen", sagte er. „Ich habe nichts zu verzollen, doch immer wenn ich über Saarhölzbach fahre, bin ich fürchterlich aufgeregt. Die Bösmadamm macht mich völlig nervös." Die Dame neben mir nickte zustimmend und zog einen Brief aus ihrer Tasche. Dann schaute sie gottergeben zur Decke unseres Abteils.
Es wäre keine Geschichte daraus geworden, wenn sie nicht schließlich leibhaftig vor uns gestanden hätte. Sie war dunkelhaarig, klein und sehr schlank. Meiner kindlichen Erinnerung nach hatte sie die Augen eines Raubvogels und sah aus wie eine Hexe, mit stacheligen Auswüchsen im Gesicht und an den Beinen. Alle versicherten ihr, keine Zollware mit sich führen. Doch sie wollte zunächst unsere Pässe sehen.
Die Dame neben mir besaß keinen, sondern übergab ihr den Brief, den sie in den Händen gehalten hatte. Bösmadamm fragte: „Wer hat den geschrieben?". „Der Herr Pastor", antwortete die Dame. Es handelte sich offenbar um eine Empfehlung, die Besitzerin des Briefes auch ohne Pass über die Grenze zu lassen. Vielleicht brauchte ein Verwandter ihre Hilfe.
Bösmadamm forderte die Dame auf, ihr aus dem Abteil zu folgen. Die zurückgebliebenen Fahrgäste begannen schon Hoffnung für sich zu schöpfen, doch wenig später erschien die dienstbeflissene Zöllnerin erneut in der Tür und forderte alle auf, die mitgeführten Gepäckstücke zu öffnen. Sie durchsuchte sie, schien aber nichts zu finden oder finden zu wollen an diesem Tag.
Die Dame mit dem Brief sahen wir nicht wieder. Im laizistischen Frankreich machte eine pastorale Empfehlung viel weniger Eindruck als im frommen Saarland. Vielleicht hatte unsere Mitreisende aber auch in einem anderen Abteil Platz gefunden.
In mehreren Küchen jenseits der Grenze dampfte jedenfalls geraume Zeit später echter Kaffee.