Vor einiger Zeit erinnerte ein Artikel in der saarländischen Presse an das Lehrerseminar in Lebach. Anlass dazu war, dass diese Schule vor 50 Jahren, also im Jahr 1964, geschlossen worden war. Die Ausbildung der Lehrer für die saarländischen Volksschulen erfolgte danach an der Pädagogischen Hochschule in Saarbrücken.
In den ersten Nachkriegsjahren unterrichteten in den Schulen weit mehr Lehrerinnen als Lehrer; Lehrerinnen jeden Alters, die wenigen Lehrer waren eher über als unter fünfzig. Berufsanfänger gab es fast nicht: Sie waren als junge Offiziere gefallen oder noch in Gefangenschaft. In den Schulen fehlten Lehrer. Um die Lücken zu schließen, wurden Schnellkurse eingerichtet. Im Herbst 1946 wurden drei Lehrerseminare eröffnet: in Saarlouis, Ottweiler und Blieskastel. Nach dem Besuch der achtjährigen Volksschule konnte man sich zur Aufnahmeprüfung anmelden.
Zwei Jahre später, im Herbst 1948, wurden die Seminare in Internatsschulen umgewandelt und nach der Konfession getrennt, die gleiche Regelung, die damals auch für die Volksschulen galt. Die katholischen Mädchen gingen nach Blieskastel, die katholischen Jungen nach Lebach und die evangelischen Schüler und Schülerinnen nach Ottweiler.
In Lebach wurde das Seminar in Gebäuden der ehemaligen Kasernenanlage am Fuß des Hoxbergs eingerichtet. Was fanden wir Schüler bei unserer Ankunft vor? Ein kleineres Verwaltungsgebäude mit Küche und zwei Speisesälen; große, mehrstöckige Häuser mit langen Fluren, an denen die Klassenräume oder die Stuben lagen; einen Sportplatz; dahinter diverse Nebengebäude; das ganze Areal von einer Mauer oder einem Zaun umgeben. Alles war noch wie im Experimentierstadium: die Schul- und Hausordnung, der Unterricht, die Studienzeiten, die Mahlzeiten. Wir waren gewiss nicht von übertriebenem Freiheitsdrang beseelt, jedoch fühlten sich besonders die älteren unter uns eingeengt. Zwischen sechs Uhr früh und 21 Uhr am Abend schrillten die Glocken auf den Fluren allzu oft, um zu den diversen Pflichten zu rufen. Zwei Stunden Ausgang am Mittwoch- und am Samstagnachmittag und vier am Sonntag wurde als zu wenig empfunden. Wohin gingen wir? In die zwei Schreibwarenläden in Lebach, in denen die Seminaristen sich drängten; Anfang September zum Pferderennen in den Thelwiesen; durch die Wälder am Hoxberg ... Wir sehnten den Samstag herbei, an dem wir heimfahren durften. Zeitweise wurde das nur alle vier Wochen erlaubt. Wer waren die Lehrer? Ehemalige Seminarlehrer, verdiente Volksschullehrer, allen gemeinsam war wahrscheinlich, dass sie zwischen 1935 und 1945 den damals Herrschenden nicht gedient hatten.
Für die Eröffnungsfeier der neuen Schule mussten Lieder eingeübt werden. In der ehemaligen Reithalle standen einige Hundert Seminaristen kunterbunt durcheinander. Der Musiklehrer, Herr Lansch, stieg auf einen Stuhl, übte Text und Melodie von zwei oder drei Kanons ein, teilte mit ausgestreckten Armen die Gruppen ein und gab die Einsätze. Es gelang in der Probe und bei der Feier. Den schon bald gegründeten Chor führte Herr Lansch zu guten Leistungen. Er wurde gern zu Feierlichkeiten in der Umgebung eingeladen.
Zur Grundausstattung des Seminaristen gehörte eine Geige. Unterrichtet wurde nicht einzeln oder in kleinen Gruppen, sondern mit der ganzen Klasse. Zuerst stimmte der Lehrer die Geigen der Schüler, die das noch nicht konnten, am Anfang fast alle. Hatte einer ein Instrument aus besonders „edlem" Holz, pflegte er zu sagen: „Hm, eine echte ..." Er nannte den Namen einer bekannten Saarbrücker Holzhandlung. Nach und nach lernten alle, ihre Geige selbst zu stimmen. Vom Kratzen auf den leeren Saiten, bis eine Auswahl sich an der „Kleinen Nachtmusik" versuchte, dauerte es etwas länger als drei Jahre.
Eine Turnhalle gab es am Anfang noch nicht. So fanden alle Sportstunden auf dem Sportplatz statt: Leichtathletik und Ballspiele. Für die darin begabteren Schüler wurden eine Fußball- und eine Handballmannschaft gegründet. Beide brachte Herr Gutzmann, der Sportlehrer, zu herausragenden Leistungen.
Außer Musik, Sport und Zeichnen wurden alle Fächer in den Klassensälen unterrichtet. Es gab noch keine Fachräume für die Naturwissenschaften.
Wir waren wissbegierige und lerneifrige Schüler. Es war kein Problem, die Balladen von Schiller, selbst das mehrere Seiten lange „Lied von der Glocke" auswendig zu lernen, die Merseburger Zaubersprüche oder das Gotische Vaterunser. Der Deutschlehrer, Herr Schinhofen, war ein Begeisterter und wollte ein uns Begeisternder sein; es gelang nicht immer. Vor dem Krieg hatte er im Saarlouiser Hausen-Verlag eine Reihe literarischer Texte für die Schule herausgegeben.
Herr Schinhofen stammte aus der Eifel, seine Frau aus dem Rheinland. Wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, regte er im November 1948 die erste St. Martinsfeier mit Umzug, Liedern und Feuer an. Es war eine Abwechslung im Schulalltag, etwas Neues. Der Brauch war hierzulande unbekannt, nicht aber in Frau Schinhofens Heimat. Es hieß damals, Herr Schinhofen habe nicht nur Abwechslung in den Schulalltag bringen, sondern auch seiner Frau eine Freude machen wollen. Wenn das alles richtig ist, wäre Herr Schinhofen der Initiator für die St. Martinsfeiern, die heute in vielen saarländischen Gemeinden zum Brauchtum gehören, als wäre es immer so gewesen.
Der Französischunterricht wurde von dem Ehepaar Frank erteilt und war gewiss von besonderer Qualität. Viele Seminaristen nutzten die Gelegenheit, nach der Abschlussprüfung in Lebach das erste Berufsjahr als Sprachassistenten an einer Schule in Frankreich zu verbringen. Frau Frank war dem Typ nach Südfranzösin, aber groß; Herr Frank soll ungarische Wurzeln gehabt haben. Es sickerte durch, er arbeite an einem Buch über die Minnesänger aus dem deutschsprachigen Raum und die südfranzösischen Trouvères. Die richtige Antwort eines Schülers pflegte Monsieur Frank mit einem sehr akzentuiert ausgesprochenen „C'est cela" zu quittieren. Das brachte ihm seinen Spitznamen ein. Die dazu passende weibliche, wenn auch grammatisch nicht ganz korrekte Form als Spitzname für Madame Frank war alsbald gefunden: „C'est ce Liese". In einer kritisch-lustigen Rede während der St. Nikolausfeier gab ein Schüler die beiden Spitznamen der Seminaröffentlichkeit bekannt und erntete lautes Lachen von Lehrern und Schülern, nur Madame Frank blieb ernst. Ihre Deutschkenntnisse reichten nicht aus, die Pointe zu verstehen. Ihr Mann klärte sie auf, dann lachte auch sie. Wer zuletzt lacht ...
Gewiss wären noch andere Geschichten aus der „Pionierzeit" des Lebacher Lehrerseminars zu erzählen: von der zeitweise als unzureichend empfundenen Ernährung (es war das Jahr 1948) und wie man sie zu ergänzen suchte; von der gestohlenen Grauwurst, welches Ereignis von den Geschädigten in einer Ballade besungen wurde; von der allzu engen Ordnung und den Versuchen, gelungenen und missglückten, darin Lücken aufzuspüren; und viele andere. Es war ein Anfang, und aller Anfang ist schwer, sagt das Sprichwort.
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Fotos: © Hans Herkes