Seltsam mag es den Dorfbewohnern vorgekommen sein: Dieser hoch gewachsene, offenbar recht kräftige Herr Schmidt, der da als Flüchtling zusammen mit seiner Frau zwei Zimmer im Haus Nr. 63, bewohnte, ging ja wohl keiner geregelten Arbeit nach. Regelmäßige Spaziergänge machten die beiden, und wenn es abends dunkel wurde, sah man ihn vor dem Bauernhof auf und ab gehen. Dort besah er sich die Sterne und den Mond. War das eine Beschäftigung für einen erwachsenen Mann?
Der Mann war Schriftsteller, das wussten die Vermieter zu berichten. Wer heute Arno Schmidt liest, findet tatsächlich immer wieder Beschreibungen des Mondes. Einundzwanzig sind es zum Beispiel auf den zweiunddreißig Druckseiten der Erzählung „Die Umsiedler", deren Niederschrift in Kastel erfolgte. „Lichtteich im rauhen Wolkenmoor"; „... der Mond hatte die alten Ackerwagen prall mit weißen Planen bespannt...", „Silberboje, schräg verankert im Wolkenstrom"...: „Was ich schon an Mondmetaphern ersonnen habe; es wäre nicht mehr als recht und billig, einen Mondkrater nach mir zu benennen!" heißt es in „Schulausflug".
Fünf Romane schrieb Arno Schmidt während seiner Zeit in Kastel. Daneben entstand eine Vielzahl von Glossen für das Feuilleton verschiedenster Tageszeitungen und die ersten Radio-Essays. Arno Schmidt nannte diese Texte abschätzig „Brotarbeit", mit ihnen verdienten die Schmidts ihr Geld. Man kann auch sagen: Ihren kümmerlichen Lebensunterhalt, denn wenn im Monat einmal hundertzwanzig DM zusammenkamen, so war das ein außergewöhnlich guter Monat. (Zum Vergleich: Das durchschnittliche Monatseinkommen lag 1954 bei 350 DM.) Hätte Schmidt diese Texte nicht abgefasst (und seine Frau musste ihn öfters dazu ermuntern), er hätte womöglich den Beruf des Schriftstellers aufgeben müssen.
Landschaftlich erinnert Kastel so gar nicht an Heide, Moor und Flachland, die oft herbeigesehnte Lieblingslandschaft Arno Schmidts. Doch ebenso wie seine Frau war er von der Gegend um Kastel recht angetan. Wenn der erste Satz der Erzählung „Schlüsseltausch" lautet " Da ist es sehr einsam, da hinten an der Saar", so ist das eher ein Kompliment Arno Schmidts an Kastel als eine Kritik. In Alice Schmidts Tagebuch der Jahre 1954 und 1955 ist immer wieder von der wunderbaren Landschaft die Rede: „Ein prächtiges Stück Wildlandschaft!" heißt es z. B. über die Felsen oberhalb des Saartals. Der Besuch des dort gelegenen, von Karl Friedrich Schinkel entworfenen Grabmals König Johanns von Böhmen (des Vaters Karls IV.) ist für historisch interessierte Besucher ebenso lohnend wie die von Schmidts gelobte Aussicht, die auch heute noch prachtvoll ist. Noch im letzten zu Schmidts Lebzeiten veröffentlichten Buch, „Abend mit Goldrand", kennt die weibliche Hauptfigur Ann'Ev' „Kastel ... an der Saar... wo der blanne Jhang g'legn hat" - also der „Blinde Johann" von Böhmen.
Heute erinnert eine Tafel am Haus Kirchstraße 18 in Kastel an den Schriftsteller, der dort vier Jahre lang gewohnt hat.
Dem Autor dieses Textes ist bekannt, dass Kastel-Staadt seit 1947 zu Rheinland-Pfalz gehört. Er meint aber, der Ort habe vor allem landschaftlich genügend mit dem Saarland zu tun, um eine Veröffentlichung in der „Saarland-Lese" zu rechtfertigen.
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Literatur:
Zitierte Werke von Arno Schmidt (nach der „Bargfelder Ausgabe"):
Detailliert zu Arno Schmidts Zeit in Kastel:
Josef Huerkamp: Der Landschafter auf der Höhe. Arno Schmidt in Kastel 1951 - 1955. Dresden: Neisse-Verlag 2008.
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Bildnachweise:
- Arno Schmidt, ca. 1950: Arno Schmidt Stiftung, Unter den Eichen 13, 29351, Bargfeld
- Kastel-Staadt: Urheber DrAlzheimer, CC BY-SA 3.0