Die beiden Staaten, Dominikanische Republik und Haiti, teilen sich die östliche Nachbarinsel Kubas etwa im Verhältnis zwei zu eins. Während das größere Land im Ostteil der Insel seit mindestens zwei Jahrzehnten jährlich von mehreren Tausend deutschen Feriengästen besucht wird und zumindest als Urlaubsziel bekannt ist, gelangte Haiti, der kleinere Nachbar im Westen erst durch die Katastrophe 2010 in die Schlagzeilen der Weltpresse. Am Nachmittag des 12. Januar erschütterte ein schweres Erdbeben den Süden des Landes. Teile der Hauptstadt Port-au-Prince fielen in Trümmer, einige kleinere Orte wurden ganz zerstört. Mehr als 300 000 Tote waren zu beklagen; die Zahl der Verletzten war noch höher; man schätzt, dass ein Drittel der Bevölkerung Haitis auf irgendeine Weise von den Auswirkungen des Erdbebens betroffen war. Pater Ferdi Philippi, dem Haiti in drei Jahrzehnten aufopferungsvoller Tätigkeit als Missionar und Sozialreformer zur Heimat geworden war, hat dieses Unglück nicht mehr erlebt. Neun Monate vorher, im April des Jahres 2009, war er nach langer Krankheit gestorben. 76 Jahre ist er alt geworden.
Im September 1989 bekam Pater Ferdi in seiner zweiten Heimat Besuch aus der ersten. Zwei Montfortaner machten sich auf den Weg ins ferne Haiti, um zu sehen, wie ihr Ordensbruder und Freund dort lebte und wirkte, und wie er noch besser zu unterstützen wäre. Der eine, Pater Edmund Jäckel, Saarländer auch er, aus Limbach im Landkreis Saarlouis gebürtig, zudem Altersgenosse Pater Ferdis, hat diese Reise anschaulich beschrieben. Schon bei der Ankunft auf dem Flughafen in Port-au-Prince erfahren er und Pater Hoff, sein Begleiter, welchen Ruf Pater Ferdi, der Missionar aus Deutschland, in Haiti genießt. Während der Passkontrolle wundert sich der Polizist. Wer will schon nach Jean Rabel, in diese gottverlassene Gegend? Als er dann hört, dass die beiden zu Pater Ferdi wollen, geht alles schnell. Sie dürfen die Pässe einstecken und passieren. Die übrigen Passagiere werden nicht so bevorzugt abgefertigt. Der Name Pater Ferdi erweist sich auch am Gepäckschalter als vorteilhaft. Der Kontrolleur kennt den Missionar persönlich. Die Reisekoffer bleiben ungeöffnet.
Ferdi Philippi wurde am 15. Dezember 1932 in Hemmersdorf im Kreis Saarlouis geboren. Das war damals ein bäuerlich geprägtes Dorf im Tal der Nied, eines linken Nebenflusses der Saar, nahe der lothringischen Grenze. Der Vater arbeitete im Kalkwerk, das die Dillinger Hüttenwerke in Hemmersdorf betrieben. Die Arbeit in den Stollen war der Gesundheit eher abträglich. Wie das zur damaligen Zeit üblich war, bestellte die Familie einige Äcker, die ihr gehörten. Das erwies sich bald schon als überlebenswichtig für die junge Mutter mit drei Kindern, denn ihr Mann bekam eine Lungenentzündung und starb mit 33 Jahren. Das älteste Kind, Ferdi, war vier Jahre alt, als er seinen Vater verlor. Er war noch nicht sieben, als der Krieg ausbrach, und zwölf, als er zu Ende ging. Die Familie litt keine Not, aber die Schrecken des Krieges verschonten die im Dorf an der Grenze aufwachsenden Kinder nicht. Ferdis Mutter war eine fromme Frau. Sie erzog die Kinder in streng katholischem Glauben, lehrte sie die täglichen Gebete und nahm sie mit zu den Gottesdiensten in die Kirche St. Konrad. Ferdi wurde Messdiener. Der Pfarrer schätzte den eifrigen Jungen.
Nach der achtjährigen Volksschulzeit im Heimatdorf erlernte Ferdi den Beruf des Anstreichers und arbeitete mehrere Jahre als Geselle bei einer Hemmersdorfer Firma. Ferdi war ein fleißiger Bursche, der auch als talentierter Maler auf sich aufmerksam machte. Als Tapezierer und Anstreicher war er indes vor allem gefragt, selbst in den grenznahen lothringischen Orten war er wohlgelitten. Den Bauernstuben hat er neuen Glanz verliehen. Die jüngere Schwester Maria und der noch kleinere Bruder Rudi werden sich mit der Mutter gefreut haben, wenn der große Bruder mit dem Lohn für seine Arbeit nach Hause kam.
Malergeselle wollte Ferdi sein Leben lang nicht bleiben. Missionieren, in die Welt hinausziehen, den Armen helfen, das waren die Gedanken, die im Geheimen ihn beschäftigten. So war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis er ernst machte, den Beruf an den Nagel hängte und Theologie zu studieren begann. Ferdi wollte Missionar werden. Es war ihm aber nicht gleichgültig, wo er wirken wollte. Für die Armen wollte er sich einsetzen, das war sein Ziel. Er hatte ein Vorbild: den Salesianer-Pater Nilles aus Hemmersdorf, der Missionar in Indonesien war und bei seinen Besuchen in der Heimat von seiner Tätigkeit berichtete. Nach ihm heißt jetzt die Straße, die an der Kirche St. Konrad vorbeiführt. Der im Saarland am besten bekannte Missionsorden war die „Gesellschaft vom göttlichen Wort", die in St. Wendel eine Niederlassung hatte, besser bekannt als Steyler Missionare. In deren Schule für Spätberufene in Geilenkirchen trat Ferdi Philippi ein. Er sah einen langen Weg vor sich, zu lang für seine Ungeduld, in der Mission ans Werk gehen zu können. Bei den Montfortanern könnte es schneller gehen als bei den Steylern, fand er heraus. Also wandte er sich nach Rheydt bei Mönchengladbach, wo sie eine Niederlassung hatten.
Die auf drei Jahre veranschlagte Schulzeit konnte er um ein Jahr verkürzen. 1958 wurde er eingekleidet, in Holland war er im Noviziat, studierte zwei Jahre Philosophie, vier Jahre Theologie und wurde im März 1965 zum Priester geweiht. Es folgten die Primiz in der Heimatpfarrei Hemmersdorf und die Beauftragung für die Mission in Haiti. Der Montfortaner-Orden unterhielt damals Missionsstationen in vielen Ländern. Pater Ferdi Philippi wollte zu den Ärmsten der Armen nach Haiti. Es ist nicht üblich, dass ein Missionar sich seinen Wirkungskreis selbst aussucht. Und wenn er sein Ziel zu laut verkündet, läuft er Gefahr, von seinen Oberen ans andere Ende der Welt geschickt zu werden. Auch da war Ferdi Philippi eine Ausnahme. Schon vor seiner Ernennung sammelte er Informationen über die Antilleninsel und bereitete sich vor: Er verzichtete darauf, den Führerschein zu erwerben, lernte aber reiten; bemühte sich nicht allzu sehr, Französisch zu lernen, obwohl man es ihm empfahl, wusste er doch, dass nur die wenigen die Sprache der ehemaligen Kolonialherren beherrschten, die eine Schule besucht hatten, die meisten jedoch Analphabeten waren und Kreolisch sprachen. In Rotterdam belegte er Kurse im Tropenmedizinischen Institut, und während eines Praktikums bei einem Zahnarzt sowie in einem Krankenhaus in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Heimatgemeinde eignete er sich Grundkenntnisse in Zahnmedizin und Heilkunde an. Wie sehr ihm das bei seinem Einsatz in Haiti zustatten kommen sollte, wird er sich kaum ausgemalt haben. In einem Brief an seinen Freund und Betreuer in Deutschland, Pater Edmund Jäckel, berichtete er, er habe an einem Tag 50 Zähne gezogen, von denen einige allerdings schon sehr gewackelt hätten.
Im Sommer 1965 ging Pater Ferdi in Port-au-Prince an Land, und in den folgenden drei Jahrzehnten wurde Haiti zu seiner zweiten Heimat. In was für ein Land kam er da? Die politischen Verhältnisse waren verworren, die Wirtschaft florierte nicht, im nördlichen Landesteil, wo Ferdis Wirkungsbereich sein sollte, gab es so gut wie keine Infrastruktur, keine funktionierende Verwaltung, keine festen Straßen und Brücken über die Flüsse. Große Teile der Bevölkerung waren ohne Arbeit und bitter arm, konnten weder lesen noch schreiben, es gab nur wenige Schulen für die Kinder, kaum Berufsausbildung für die Jungen. Die Hälfte der Kinder starb an Unterernährung und Krankheiten. Malaria, Typhus und Cholera waren verbreitet. Pater Ferdi kam in einen Bezirk von der Größe des Saarlandes, in dem es kein einziges Krankenhaus gab. Wie es in den französischen Kolonialgebieten üblich war, gab es auch in Haiti schon lange Niederlassungen französischer Missionsorden, eben auch der Montfortaner. So waren die meisten Haitianer katholisch getauft, aber es mischten sich oft Glaube und Aberglaube, und viele praktizierten Voodoo-Riten. Nordamerikanische Sekten verfügten über viel Geld und hatten Zulauf.
In dieses Milieu kam Pater Ferdi Philippi. Er war der einzige deutsche Montfortaner dort. Das erste Jahr in St. Louis du Nord war sozusagen seine Lehrzeit. Darauf folgten dreizehn Jahre in Gros Morne, acht in Port de Paix und noch einmal acht in Jean Rabel. Alle diese Orte liegen im unterentwickelten Nordteil des Landes. Gemeinsam war ihnen, dass sie Zentren größerer Distrikte waren mit jeweils mehreren Außenstationen und weiteren kleinen Kapellenorten, die vom Zentrum aus zu versorgen waren. Im allgemeinen funktionierte das so, dass von zwei Priestern, die in der Pfarrei stationiert waren, im wöchentlichen Wechsel der eine im Pfarrzentrum blieb, während der andere im Umland zu Fuß oder zu Pferd unterwegs war. Es ging buchstäblich über Stock und Stein, denn es gab weder befestigte Straßen noch Brücken über die Wasserläufe. Was der Missionar in den abgelegenen Dörfern zu Gesicht bekam, muss ihn im Innersten berührt haben: Elende Lehmhütten, viele Kranke, halb verhungerte Kinder, besonders Waisenkinder, junge Menschen ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft, Erwachsene in Lethargie, vielleicht mit gutem Willen, aber ohne Durchhaltevermögen. Pater Ferdi stellte sich der Herausforderung und packte an. Seine gute Konstitution, seine praktische Begabung, seine handwerkliche Ausbildung kamen ihm zustatten. Beispiel aus seinen Briefen: Eine Kirche sollte gebaut werden, man brauchte Steine, die aus dem nahen Steinbruch herbeizuschaffen waren, keiner rührte sich. Pater Ferdi schleppte die ersten Steine heran, erst dann folgte man seinem Beispiel.
In einem Brief an seine Unterstützer in Deutschland kann er nach dreizehnjähriger Tätigkeit in Gros-Morne berichten: „In der Zeit meines Wirkens haben wir sieben Kirchen gebaut, drei Volksschulen und das Krankenhaus Alma Mater in Decostière, das Ernährungszentrum und ein Altenasyl errichtet." Aus den beiden anderen Pfarreien, in denen er danach tätig war, konnte er seinen Helfern zu Hause Ähnliches berichten.
Pater Ferdis Einsatz für die Menschen in Haiti fand nicht nur deren Anerkennung sowie die seiner Ordensoberen, sondern auch die der Regierungen seiner beiden "Heimatländer". Der Präsident von Haiti, Duvalier, ernannte ihn zum „Chevalier de la Santé", und der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Port-au-Prince, Heinrich-Peter Rothmann, überreichte ihm im Auftrag des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1990 in der deutschen Botschaft in Port-au-Prince das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Natürlich ging es Ferdi Philippi nicht um Ehrungen dieser Art, sie können nicht das Ziel eines Missionars sein noch kann er überhaupt damit rechnen. Bei allem persönlichen Einsatz Pater Ferdis wäre das Werk ohne die Hilfe aus Europa nicht möglich gewesen. Finanzielle Unterstützung bekam er von vielen Seiten: vom Orden, von den verschiedenen Hilfsorganisationen, von Gruppen und Einzelpersonen wie Freunden und Verwandten. Sein Schwager, ein tüchtiger Handwerker, ließ seinen Urlaub von zwei Jahren zusammenkommen, um mit Ferdi in Haiti zu bauen und Brunnen zu graben.
Fünf- oder sechsmal war der Missionar auf „Heimaturlaub". Den hatte er jedesmal bitter nötig, setzte er sich doch bis zur Erschöpfung für seine Haitianer ein. Hatte er sich erholt, hielt er Vorträge in Schulen, bei Hilfsorganisationen und in Kirchen, um Spenden einzusammeln.
Alle, die Ferdi Philippi kannten, stimmen darin überein, dass er gesund, kräftig und persönlich anspruchslos war. Trotz diesen Voraussetzungen war nicht zu erwarten, dass jemand das strapaziöse Leben in Haiti auf Dauer unbeschadet durchhalten konnte. 1979 erkrankte er an Malaria und Typhus. Ein französisches Ehepaar sorgte dafür, dass er nach Deutschland geflogen wurde, wo er drei Monate in Krankenhäusern behandelt wurde, bis er wieder nach Haiti zurückkehren konnte. Als man ihm nahelegte, sein 25jähriges Priesterjubiläum in Deutschland zu feiern, wandte er ein: „Wisst Ihr denn nicht, dass ich in Deutschland immer krank bin?" Das sagte er wohl augenzwinkernd. Er wird schon gewusst haben, dass er da Ursache und Wirkung vertauschte. 1995 war der Missionar gezwungen, seine Wirkungsstätte auf der Antilleninsel für immer zu verlassen. Zwar hoffte er, dass er wieder hergestellt werden könnte. „meine Haitianer brauchen mich", sagte er, aber seine Gesundheit war endgültig zerrüttet. An eine Rückkehr nach Haiti war nicht zu denken. In Deutschland gehörte er nun zum Montfortaner-Kloster Marienheide im Bergischen Land. Zuletzt wurde er im Alexianer-Krankenhaus in Siegburg gepflegt. Er war Dialyse-Patient und starb am 15. April 2009 in Siegburg. Beerdigt wurde er in Marienheide.
Zum Gedenken an Pater Ferdi Philippi erhielt ein Platz in Hemmersdorf seinen Namen.
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Quellen:
- Martin-Peter Scherzinger: Pater Ferdi Philippi Der große Wohltäter im Armenhaus Haiti. 135 Seiten, zahlreiche Fotos (farbig und schwarz-weiß), ISBN 978-3-938415-46-7.
Das Buch ist zu beziehen über: Martin-Peter Scherzinger, In der Schank 25, 66663 Merzig, Deutschland, Telefon: 06861/6276.
- Pater Edmund Jäckel, Reisebericht 1989 „Jetzt wisst Ihr, wie das hier so läuft", Drei Wochen zu Besuch bei Pater Ferdi Philippi in Haiti. Neu aufgelegt von Martin-Peter Scherzinger, Merzig.
Die Fotos stammen aus dem o.g. Buch von Martin-Peter Scherzinger, mit freundlicher Genehmigung.